Die aktuellen Wochen dürften dem Europäischen Zentrum für die Prävention von Krankheiten zufolge die ruhigsten im ganzen Jahr werden, ehe die Infektionszahlen – noch vor dem Herbst – wieder steigen werden.
Steigende Zahlen durch Cluster-Bildungen in Salzburg und Wien, Nachlässigkeit bei den Verhaltensregeln wie Abstand halten sowie Maske tragen und die Sorge vor den Folgen der Grenzöffnungen haben dazu geführt, dass Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) erstmals seit Wochen wieder pessimistische Töne anschlägt und von einer „unruhigen Lage“ in Österreich spricht.
Das Virus sei „nach wie vor unter uns, es hat nichts von seiner Gefährlichkeit verloren und kann jederzeit in einem größeren Stil wieder ausbrechen“.
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Dabei bezieht er sich insbesondere auf eine Prognose des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC), die dem Krisenstab seit Tagen Kopfzerbrechen bereitet. Für den Virologen Christoph Steininger von der Medizinischen Universität Wien ist „eine zweite Welle ohnehin keine Frage des ob, sondern des wann“.
Die Gründe für die Prognose
Dem ECDC zufolge dürfte eine zweite Infektionswelle in Europa bereits begonnen haben und könnte im ungünstigsten Fall Mitte Juli in etwa das Niveau der Neuinfektionen von Mitte/Ende März erreichen, als sich die Coronavirus-Epidemie in Österreich mit 600 bis 800 positiven Tests pro Tag auf ihrem Höhepunkt befand. Realistischer sind allerdings Zahlen, wie sie Anfang April vorlagen – mit 200 bis 400 positiven Tests pro Tag, was immer noch einen deutlichen Anstieg bedeuten würde.
Die zuversichtlichsten Prognosen gehen von einer Entwicklung aus, die für Mitte Juli eine Situation prognostizieren, wie sie in Österreich Mitte April vorherrschte, als die Ausbreitung mit 100 bis 150 positiven Tests pro Tag langsam unter Kontrolle gebracht wurde. Mit einer Zunahme an Infektionen – ausgehend hauptsächlich von Ballungszentren – wird somit in jedem Fall gerechnet. Grundlage für diese Annahme sind die Erfahrungen aus den vergangenen Monaten, nachdem die weitreichenden Maßnahmen zur Kontaktreduktion zunächst angeordnet und später schrittweise gelockert wurden, inklusive Öffnungen der meisten innereuropäischen Grenzen, die das als Contact Tracing bezeichnete Zurückverfolgen von Infektionsketten beinahe unmöglich machen.
Die Gründe für die große Schwankungsbreite in der Berechnung sind zum einen die unterschiedlichen Ausgangssituationen der einzelnen Länder und zum anderen die Unvorhersehbarkeit der Folgen nach den Grenzöffnungen – die Frage also, in welchem Ausmaß und mit welcher Disziplin die Reisefreiheit in Anspruch genommen wird. Unbemerkt infizierte Reisende waren nämlich der Hauptgrund für die rasche Ausbreitung des Virus Anfang des Jahres in Europa.
Zweiter Lockdown?
Bei einer zweiten Infektionswelle drängt sich die Frage auf, ob sie erneut weitreichende Einschränkungen zur Folge haben würde. Abgesehen davon, dass ein zweiter, Lockdown-ähnlicher Zustand schon aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus kaum durchsetzbar wäre, ist auch aus epidemiologischen Gründen nicht davon auszugehen – schließlich sind die aktuellen Rahmenbedingungen ganz andere sind als noch Anfang März.
So stehen beispielsweise ausreichend Testkapazitäten zur Verfügung, um Verdachtsfälle innerhalb eines Tages zu testen und bei einem positiven Ergebnis in speziellen Spitalsabteilungen zu isolieren. Auch das Contact Tracing wurde professionalisiert. Nicht zuletzt wissen Ärzte viel mehr über den Krankheitsverlauf und die Behandlungsmethoden. Oder um es mit den Worten von Bernd Lamprecht, Vorstand der Klinik für Lungenheilkunde des Kepler-Universitätsklinikums Linz, zu sagen: „Im März hatten wir nur den Vorschlaghammer als Werkzeug. Mittlerweile verfügen wir über Pinzetten und Skalpelle und können spezifischer, treffsicherer eingreifen.“
Für Lamprecht, der zahlreiche Covid-19-Patienten behandelt, ist es daher wahrscheinlicher, dass gelindere Mittel wie etwa die Ausweitung der Maskenpflicht sowie die Rücknahme einzelner Grenzöffnungen angewendet und wahrscheinlich auch ausreichen werden. Von einem starken Anstieg der Infektionen noch vor dem Herbst geht aber auch er aus, ebenso wie Virologe Christoph Steininger.
Den besten Beweis dafür sehen beide in der Effizienz des Lockdown. „Wenn die getroffenen Maßnahmen die Ansteckungen derart reduzieren können, bedeutet das im Umkehrschluss, dass ihre Aufhebung wieder zu einem Anstieg der Zahlen führen muss“, sagt Lamprecht. Der größte Unterschied zur Situation im März sei der Umstand, dass die Durchseuchung derzeit deutlich niedriger ist und daher Multiplikatoren fehlten. „Das kann sich aber rasch ändern, sollten Großveranstaltungen zu Superspreader-Ereignissen werden.“ Bekanntermaßen sind rund zehn Prozent der Infizierten für rund 80 Prozent der Ansteckungen verantwortlich. Den größten Schaden können Superspreader (Menschen, die aus unbekannten Gründen viel mehr Viren ausscheiden und daher infektiöser sind) bei Großveranstaltungen anrichten.
Vermieden werden können solche Ereignisse Steininger zufolge am ehesten durch so viele vorsorgliche Tests wie möglich, um ansteckende Personen, von denen viele symptomfrei sind, rechtzeitig zu erkennen und isolieren.
Intensivkapazitäten in den Spitälern
Dass die Intensivkapazitäten in Österreich nie ausgeschöpft wurden, heißt nicht, dass es nicht doch noch dazu kommen kann, wie aus den Zahlen hinsichtlich schwerer Verläufe hervorgeht. Die meisten Erkrankten hatte Österreich Anfang April, am 3. April gab es 11.129 positiv Getestete. 1074 von ihnen benötigten eine Spitalsbehandlung, 245 ein Intensivbett. Rund zehn Prozent der positiv Getesteten landen also im Krankenhaus, 2,2 Prozent auf der Intensivstation.
Für Oberösterreich beispielsweise mit seinen 200 für Covid-19-Patienten verfügbaren Intensivbetten bedeutet das, dass nie mehr als 9000 Menschen gleichzeitig erkranken dürften, damit es zu keinen Engpässen kommt. „Das klingt viel“, sagt Lamprecht. „Aber bei 1,5 Millionen Einwohnern können 9000 Infektionen schnell zusammenkommen. Insbesondere dann, wenn auf die Einhaltung der Maßnahmen zur Kontaktreduktion weitgehend verzichtet wird.“
Wirtschaftsred. H. A.